Physiknobelpreis 1991: Pierre-Gilles de Gennes

Physiknobelpreis 1991: Pierre-Gilles de Gennes
Physiknobelpreis 1991: Pierre-Gilles de Gennes
 
Der Franzose wurde für die Beschreibung allgemeiner Ordnungsregeln in komplexen Formen der Materie, insbesondere der von Flüssigkristallen und Polymeren, ausgezeichnet.
 
 
Pierre-Gilles de Gennes, * Paris 24. 10. 1932; ab 1971 Professor am Collège de France und seit 1976 Leiter der École Supérieure de Physique et Chimie Industrielles in Paris.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Pierre-Gilles de Gennes wird von Experten als Isaac Newton unserer Zeit betrachtet. Dieser hohe Respekt wird seinen ungewöhnlichen Leistungen auf verschiedenen schwierigen physikalischen Arbeitsgebieten gezollt. De Gennes hat in den 1960er-Jahren an der Universität Orsay Phasenübergänge in magnetischen Materialien und supraleitenden Metallen untersucht. Darauf aufbauend, gelang es ihm, mit erweiterten theoretischen Modellen ähnliche Ordnungsprozesse in Flüssigkristallen und Polymerlösungen zu beschreiben. Für diese Leistung, die viele Physiker für unmöglich hielten, ist er ausgezeichnet worden.
 
 Die Entdeckung eines Botanikers
 
Der österreichische Botaniker Friedrich Reinitzer hatte 1888 in Graz bei Versuchen am Cholesterinbenzoat einen doppelten Schmelzpunkt bemerkt. Seine Probe schmolz bei 145,5 Grad Celsius, ging aber erst bei 178,5 Grad Celsius in eine klare isotrope Flüssigkeit über, in der Übergangsphase war sie milchig-trüb. Reinitzer sandte dem deutschen Kristallografen Otto Lehmann Proben, der ihr Verhalten unter einem mit einem Ofen verbundenen Mikroskop beobachtete. Lehmann stellte fest, dass die Verbindung in der mesomorphen Übergangsphase zwar flüssig war, aber gleichzeitig die lichtbrechenden Eigenschaften von Kristallen besaß. Ohne die Molekülstruktur des Cholesterinesters zu kennen, schloss er auf langgestreckte Moleküle, die sich entlang der Längsachse orientieren. Er gab solchen optisch aktiven Flüssigkeiten den Namen »flüssige Kristalle«.
 
Die ersten systematischen Arbeiten zu Flüssigkristallen führte der Chemiker Daniel Vorlander in Halle Anfang des 20. Jahrhunderts durch. Grundlegende Beiträge »Über die Gestalt fadenförmiger Moleküle in Lösungen« leistete der Physikochemiker Werner Kuhn. Ein wesentliches Strukturprinzip der Flüssigkristalle ist damit beschrieben. Ihre Moleküle sind vier- bis sechsmal so lang wie dick und haben einen formstabilen Grundkörper. Auch Moleküle mit Scheibenform können ein flüssigkristallines Verhalten zeigen.
 
Die Moleküle eines Kristalls besitzen eine Positionsfernordnung und, soweit sie von der Kugelgestalt abweichen, auch eine Richtungsfernordnung. Flüssigkeiten zeichnen sich durch die chaotische Ausrichtung der Moleküle und eine unregelmäßige, sich ändernde Verteilung der Molekülschwerpunkte aus. Beim Schmelzen von Flüssigkristallen werden Positionsfernordnung und Richtungsfernordnung aufgehoben. Durch die Stäbchenform behalten die Moleküle in Flüssigkristallen in der Übergangsphase jedoch ihre parallele Ausrichtung und deshalb ihre makroskopisch erkennbaren, richtungsabhängigen physikalischen Eigenschaften bei, zum Beispiel den Brechungsindex und die Dielektrizitätskonstante.
 
Einen solchen Flüssigkristall nennt man wegen seiner eindimensionalen Struktur nematisch oder fädig. Er unterscheidet sich deutlich von dreidimensionalen Kristallen und isotropen Flüssigkeiten. Weist der Flüssigkristall auch eine Schichtung der Molekülschwerpunkte auf, spricht man von einer zweidimensionalen, smektischen oder seifigen Phase. Sie tritt in der Regel bei tieferen Temperaturen auf und die Moleküle sind höher viskos als in der nematischen Phase, vergleichbar mit Wachs und Honig.
 
 Vom Glanzkäfer zum Flachbildschirm
 
Eine weitere wichtige Form eindimensionaler Flüssigkristalle ist die schraubenförmig gewundene Spirale. Sie wird, nach den Cholesterienestern, als cholesterisch bezeichnet. Sie kann sich nur mit händigen, chiralen Molekülen bilden, die das Streulicht zirkulär polarisieren. Cholesterische Flüssigkristalle liefern metallisch schimmernde Farben. Bestes Beispiel sind die aus erstarrten cholesterischen Strukturen bestehenden Deckflügel von Glanzkäfern.
 
De Gennes persönlich lieferte grundlegende Beiträge zu diesem Themenkomplex, ohne die viele alltägliche technische Anwendungen nicht denkbar wären. Er deutete die anomale Lichtstreuung nematischer Flüssigkristalle und untersuchte sehr genau den Übergang zu normalen isotropen Flüssigkeiten. Außerdem beschrieb er die Bedingungen für einen der Übergangspunkte, die auftreten, wenn ein schwaches alternierendes elektrisches Feld angelegt wird. Nematische und cholesterische Flüssigkristalle reagieren, außer auf Temperatur und Konzentration, sehr empfindlich auf äußere elektrische Felder und magnetische Felder. Die offensichtlichsten technischen Anwendungen sind die Dünnschicht-Flüssigkristall-Anzeigen von Taschenrechnern, Flachbildschirmen oder Funktelefonen.
 
Sein tiefes Verständnis der Phasenübergänge ließ de Gennes die Ähnlichkeiten im Verhalten von Flüssigkristallen und Supraleitern erkennen. Wenig später begann er sich für Kolloide und schließlich für Polymere zu interessieren. Polymere sind Ketten aus Einzelbausteinen, den Monomeren. Sie formen in Lösung Schleifen oder Knäuel, wie Spaghetti in der Schüssel. Die Windungen erscheinen als zufällige Bewegungen im dreidimensionalen Raum.
 
 Ordnung in der Unordnung
 
De Gennes gewann eine große Zahl an Forschern, um im STRASACOL, einem gemeinsamen Projekt von Physikern und Chemikern aus Straßburg, Saclay und vom Collège de France, die Dynamik der Polymere zu untersuchen. Eine der wichtigsten Entdeckungen war die überraschende Erkenntnis, dass es weit mehr Ähnlichkeiten zwischen der »Ordnung in der Unordnung« verknäuelter Polymer-Spaghetti und den Bedingungen gibt, die auftreten, wenn ein System geordneter magnetischer Momente in den ungeordneten Zustand übergeht. Er wies damit einen Weg, komplizierte Ordnungsphänomene in Polymeren zu beschreiben, der auf allgemeinen physikalischen Prinzipien des Phasenübergangs beruht. Seine Arbeitsgruppe wandte diese Verfahren auch auf konzentrierte Polymerlösungen und sogar reine Polymerschmelzen an. Es gelang auch, die Bewegungen von Polymerketten zu modellieren. So beschreibt das »Blob-Modell« die freie Bewegung von Kettensegmenten und das »Reptation-Modell« die schlängelnden Bewegungen von Ketten innerhalb eines Knäuels. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind für die Entwicklung moderner Kunststoffe unentbehrlich. Für reine Schmelzen entwickelte de Gennes eine ganze Reihe von Vorhersagen über die Dynamik von Polymerketten und Teilen davon.
 
De Gennes' umfassende Arbeiten haben gezeigt, dass es möglich ist, »unordentliche Systeme« erfolgreich mit generellen Termen zu beschreiben. Er hat in diesem Sinne ein neues physikalisches Arbeitsfeld eröffnet. Seine Grundlagenforschung befruchtet die theoretische und experimentelle Arbeit auf diesen Gebieten außerordentlich. Das 1974 erschienene Lehrbuch »The Physics of Liquid Crytals« ist noch heute ein Standardwerk.
 
In den letzen Jahren hat sich de Gennes erneut einem anderen komplexen Arbeitsgebiet zugewandt. Er beschäftigt sich nun mit dem Studium von Adhäsiven und Klebstoffen. Er hofft, irgendwann Flugzeuge vollständig zusammenkleben zu können, ganz ohne eine Schraube. Der Vater von sieben Kindern wehrt sich gegen zu viel Lobhudelei: »Man soll nicht größenwahnsinnig werden. Die Krönung des Lebens sind keine Preise. Es sind unsere Kinder.«
 
U. Schulte

Universal-Lexikon. 2012.

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